Was meint Yoga zum Glücklichsein?

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Ist Glücklichsein reiner Zufall? Nein, meint Yoga. Glücklichsein ist ein Zustand, der unabhängig von den äusseren Lebensumständen erfahren werden kann. Dieser Zustand kann ins Bewusstsein gerückt werden. Yoga nennt diese Bewusstseinsarbeit sat-chit-ananda: sein – bewusst sein – glücklich sein.

 

Wann fühle ich mich je lebendi­ger, als wenn ich verliebt bin? – Erinnern Sie sich, wie es ist, verliebt zu sein und die Welt mit den Her­zensaugen zu sehen? Es ist, als werde ein Schleier vor den Augen weggerissen und die Sinne wachen auf aus dem Dornrös­chenschlaf: wie intensiv wirken auf einmal die Farben, Düfte, Gerü­che, Klänge und Töne!

Mit andern Augen sehen

Alles scheint plötzlich zu neuem Leben erwacht. Nichts Neues und Aufre­gendes muss passieren, denn alles ist neu und aufregend. Jedes Wort, jeder Blick, jede Geste ist bedeutungsvoll und voller Ver­sprechen. Das Zeit- und Raumgefühl ver­schiebt sich und Stunden der Trennung werden zur Ewigkeit, Stunden des Zusammenseins ver­fliegen im Nu, Distanzen schrump­fen zusammen und kein Weg ist mehr zu weit. Um wieviel toleranter, mitfühlen­der und verzeihender bin ich mir selbst und andern gegenüber in diesen Zeiten der Verliebtheit.

Gibt es solche Glücksmomente, auch wenn ich nicht verliebt bin? Ja, es gibt sie, zum Glück. Ich erinnere mich, als Kind, wenn ich und alles um mich herum plötzlich in diese magische Stimmung getaucht wurden. Jede Einzelheit und gleichzeitig alles nahm ich im Zeitlupentempo wahr. Es war wie ein Einstrahlen oder Aufleuchten von etwas zutiefst Vertrautem, sowohl in mir, als auch ausserhalb von mir. Es geschah jeweils so plötzlich und selbstverständlich, dass mir diese Momente erst später als die kostbarsten in meinem Leben bewusst wurden: Ich fühlte mich zutiefst geborgen, eingebunden und aufgehoben in dieser Welt, voll Schönheit und Harmonie.

Mich ergreifen lassen

In solchen Glücksmomenten, ob damals als Kind oder später als Verliebte, erfuhr ich mich als voll­kommen Ergriffene. Etwas unbe­schreiblich Beglückendes nahm Besitz von mir und verzauberte mich. Mit Herzensaugen nahm ich wahr; mit Herzensaugen fühlte ich mich wahrgenommen.

In solchen Momenten des Glück­lichseins erfahre ich mich ganz, das heisst, nicht aufgespalten in ein denkendes, empfindendes und handelndes Wesen. Ich ruhe in mir, und fühle mich gleichzeitig mit allem und jedem verbunden. Nichts steht zwischen mir, meinem Erleben und der Welt: weder ein trennender Gedanke, noch ein trennendes Gefühl, noch eine trennende Handlung. Alles ist für einen Moment ein und dasselbe: die Wahrnehmende, das Wahr­nehmen und das Wahrgenom­mene.

Glücklichsein studieren

Im Yoga werden diese Glücks­momente sat-chit-ananda ge­nannt. Es bedeutet: sein – bewusst sein – glücklich sein, der höchste Seinszustand, der einen Menschen auszeichnen kann.

Dieser Zustand des Glücklichseins wird im Yoga studiert, und damit interessierten Menschen bewusst zugänglich gemacht.

Yoga ist ein möglicher Weg zur Selbsterkenntnis. Ich frage mich: Bin ich glücklich, weil der andere Mensch da ist? Bin ich glücklich, weil ich an den anderen Men­schen denke? Bin ich glücklich, weil ich verliebt bin? Bin ich ver­liebt, weil ich glücklich bin?

Weiter frage ich: Kann ich glück­lich sein, ohne von einem ande­ren Menschen, oder von den Ge­danken an ihn, oder von meinem Gefühl von Verliebtsein abhängig zu sein?

Ja, es ist möglich, wenn ich mir wieder bewusst mache, was glücklich sein bedeutet. Es ist ein Zustand. Ich erfahre diesen Zustand so, dass ich mich zu­tiefst geborgen, eingebunden und aufgehoben fühle in dieser Welt, voll Schönheit und Harmonie. Es ist mein Geburtsrecht, hier und jetzt da zu sein, ohne dass ich mich und meine Existenz erklären, ent­schuldigen, verdienen oder be­weisen muss. Ich darf einfach da sein: ich atme und ich bin.

Nicht ablenken lassen

Glücklichsein ist ein innerer Zu­stand, der ausgelöst werden kann, oder spontan auftritt. Er dauert so lange, bis ich mich wie­der durch ein Gefühl oder einen Gedanken von ihm ablenken lasse.

Im Yoga richte ich mich mehr und mehr auf diesen Zustand aus, in­dem ich lerne, loszulassen und mich zu entspannen. Immer mehr ziehe ich meine Aufmerksamkeit von den auslösenden oder ablen­kenden Kräfte ab. Das erfordert Konzentration.

Der Atem als Schlüssel

Yoga Übungen helfen mir, mei­nen Atem zu vertiefen, so dass sich meine Gedanken und damit auch meine Gefühle beruhigen können. Zuerst kommt mein Körper zur Ruhe und dann mein Gemüt. In­dem ich meine Muskeln ent­spanne, kann sich auch mein Ner­ven- und Hormonsystem beruhi­gen. Je tiefer und freier ich ein- und ausatmen kann, umso leichter kann ich mich entspannen und damit konzentrieren. Das ist ein erfahrbares Paradoxon (ein scheinbarer Widerspruch) im Yoga: Entspannung und Konzen­tration gehen Hand in Hand.

Freies und tiefes Atmen setzt vor­aus, dass ich mich kraftvoll aufzu­richten vermag, ohne dass Ver­spannungen und Kreislaufpro­bleme auftreten. Das wiederum setzt einen angeregten Muskelto­nus voraus, der von gekräftigten und geschmeidigen Muskeln her­rührt.

Zur Besinnung kommen

Das fasziniert mich immer wieder am Yoga Üben: Ziel ist nicht, ein Muskelprotz oder ein Schlangen­mensch zu werden. Vielmehr hel­fen mir die Körperübungen und Atemtechniken, mich in meinem Körper in der Ruhe und in der Tätigkeit wohl zu fühlen. Dann wird es mir möglich, meine Gedanken und Gefühle loszulassen, und mich zu entspannen. Ich kann zur Be­sinnung kommen und mich auf das Wesentliche im Leben konzen­trieren: ich atme und ich bin. Ich darf einfach da sein, einfach so, ohne dass ich mich und meine Existenz erklären, entschuldigen, verdienen oder beweisen muss. Es ist mein Geburtsrecht, hier und jetzt da zu sein.

Es ist, als würde ein Schleier vor meinen Augen weggerissen. Ich sehe mit Herzensaugen und es wird mir bewusst: Wann bin ich je verzeihender, mitfühlender und toleranter, und damit gesünder, und stärker, als wenn ich glück­lich bin? Oder umgekehrt: Wenn ich glücklich bin, bin ich gesünder und stärker, und also verzeihender, mitfühlender und toleranter mir selbst und den andern gegenüber.